Drei Generationen auf großer Skitour.

Abseilstelle am Col de Temple

Drei Generationen auf Skitour. Kann das gut gehen? Um ehrlich zu sein, darüber hatte ich mir vorher gar keine Gedanken gemacht. Selbst auf die 60 zugehend kenne ich die Hoffmann-Brüder Claus und Christian, beides gestandene 40er, schon von gemeinsamen Klettertouren in den Achtzigerjahren und Jonas, das „Nesthäkchen“, gerade mal Anfang 20, ist halt mittwochs Aufsicht in der Kletterhalle – da kommt man einfach ins Ratschen und zum Planen. Und findet nach gemeinsamen Skitouren schon mal ein etwas exotischeres Ziel (zumal der Winter bei uns ziemlich zu wünschen übrig gelassen hatte). Richtig schön in die Westalpen sollte es gehen, gerne außerhalb der Modetouren wie der Haute Route. Und so war das Ziel schnell gefunden – die Skidurchquerung der Dauphiné sollte es sein.
er erste Kulturschock ereignet sich schon am Abfahrtstag um 5:00 Uhr in der Früh im Auto. Jonas Handy beginnt wie verrückt zu läuten. Für einen Angehörigen meiner Generation bedeutet ein Telefonanruf um diese Zeit wahlweise eine Tragödie im engeren Familien- oder Freundeskreis oder der kurz bevorstehende Ausbruch des 3. Weltkrieges. Glücklicherweise entpuppt sich der Anrufer als einer von Jonas Kollegen, der die Frage auf dem Herzen hat, ob denn heute noch etwas feiermäßig abgeht. Von Jonas abschlägig beschieden, können wir uns unverzüglich auf die Fahrt in die französischen Alpen machen.
Nach einer langen Fahrt, die an alte Zeiten erinnert, als wir oft so gemeinsam in die Berge gefahren sind (mit dem kleinen Unterschied, dass uns diesmal die Benutzung eines Routenplaners ermöglicht, auch sehr entlegene Gebiete auf dem Weg kennen zu lernen – Claus kann allerdings die verlorene Zeit mittels seines berühmten Fahrstiles locker wieder hereinholen), erreichen wir den Startpunkt unserer Skitourenwoche, das kleine Dörfchen Villar-d’-Aréne.
Die Durchquerung der Dauphiné gilt als eine der schönsten, aber auch anspruchsvolleren Skidurchquerungen der Alpen. Nicht umsonst wird die Dauphiné auch manchmal das Karakorum der Alpen genannt. Es gibt die unterschiedlichsten Möglichkeiten, diesen wunderschönen, wilden Gebirgszug zu durchqueren. In deutschen Bergsteigerkreisen beliebt und gut dokumentiert ist die Route mit Start in Villar-d’-Aréne. Über die Refuge de l’Alpe de Villar-d’-Aréne geht es (in der Regel nach einer Tour zum Akklimatisieren) über den Col Emile Pic hinüber zum Glacier Blanc. Hier kann der südlichste Viertausender der Alpen, der Barre des Ecrins, bestiegen werden. Nach der Talabfahrt wird ins nächste Tal, dem des Gletscherbecken des Glacier Noir, gewechselt. Ein abermaliger Aufstieg führt zum nächsten hochalpinen Übergang, dem Col du Temple, über den dann das jenseitige Tal bei La Berarde erreicht wird. Ein letzter Abschnitt führt dann über das Refuge du Promontoire und die Meije zurück zum Ausgangspunkt.

So weit die Theorie

Die erste Etappe ist noch recht human. In knapp zwei Stunden geht es schwerbepackt zur Hütte Refuge de l’Alpe, wo wir die Nacht verbringen werden. Hier erleben wir das erste Mal, was es bedeutet, auf einer französischen Skihütte im Winter zu übernachten. Zwar ist pro Mann und Nase immer ein 50 €-Schein fällig, dafür gibt es aber immer vier mehr oder weniger leckere Gänge zum Essen, die die tagsüber verlorenen Kalorien ersetzen sollen. Und die sollten wir noch dringend brauchen…
Ein deutlich im heimatlichen Idiom lärmender Nachbartisch entpuppt sich als eine Skitourengruppe vom Schliersee, die wir im Lauf der Woche immer wieder treffen sollten. Unter anderem war auch Anna, eine früher in Freisinger Kletterkreisen kreisende Tourengeherin mit an Bord. Von diesen aber noch später.
Zunehmend beginnt mir der nächste Tag Sorgen zu machen. Claus hatte – als Eingehtour gewissermaßen – den Montagne des Agneaux auserkoren, immerhin eine Skitour mit einem langen flachen Talhatscher und anschließend kräftigen 1800 Höhenmetern. Wenn ich an diese denke und die noch folgende Woche, wird mir schon etwas bang. Auf meine zaghaft vorgebrachten Einwände, es gäbe doch einen wunderschönen Hüttenberg gleich ums Eck mit circa 800 Höhenmetern, ideal also zur Akklimatisation, erhalte ich nach meiner Erinnerung keine Antwort (oder war es doch ein panzerknackereskes „har har har“, das mir aus drei Mündern entgegen schallte?).
Jedenfalls sah uns der nächste Tag bereits vor Sonnenaufgang vor Kälte schnatternd bereit zum Losmarschieren. Noch im Dunkeln ging es im Schein der Stirnlampen lange Zeit ein flaches Tal hinein, ehe bei aufgehende Sonne die Hänge zunehmend steiler, die Luft spürbar dünner und zumindest mein Atem immer kürzer wurde. Jonas konnte ich nach einiger Zeit noch als kleinen orangenen Punkt am Horizont ausmachen und die beiden Hoffmänner waren mir auch herzlich voraus. Meine Laune erreichte einen kurzzeitigen Tiefpunkt, als die oben erwähnte Anna mit ihrer Partnerin recht locker an mir vorbeispurtete, nicht ohne mir ein aufmunterndes „Na, kannst noch?“ zuzurufen. Spätestens jetzt wurde mir klar, worauf ich mich eingelassen hatte. Aber irgendwann kommt jeder in seinen Rhythmus und trotz der Schinderei konnte ich den heraufziehenden makellosen Tag und das sich immer prächtiger entfaltende Panorama der Westalpen bewundern.
Es hatte wenig geschneit in den Wochen zuvor und so war der Schnee auf den Hängen sehr hart gefroren. Ich war heilfroh, meine Harscheisen dabeizuhaben und auspacken zu können. Das Gelände hatte doch einen Steilheitsgrad erreicht, wo man nicht mehr gerne abrutschen würde. Meine drei Kollegen (die ich mittlerweile doch leidlich eingeholt hatte) hatten es da schon etwas schwerer. Laut Claus gehören nämlich Harscheisen zum absolut verzichtbarem, heillos überbewerteten Zubehör des Skitourengehers, weswegen keiner von ihnen welche dabei hatte. Ich jedenfalls war dankbar um meine kleinen Helferlein, die mir doch ein Gefühl der Sicherheit gaben.
Die Skitour auf den Agneaux bietet wirklich alles, was das Herz des Tourengehers ersehnt: Zuerst geht es über steile Flanken weit hinauf bis zu einer exponierten Scharte. Hier heißt es etwa 100 Höhenmeter eine etwa 50 Grad steile Rinne jenseits mit Pickel und Steigeisen abzusteigen, um das Nachbartal zu erreichen. Von dort geht es über herrliche kupierte Hänge, am Schluss noch einmal durch einen fiesen und mit morschem Schnee gefüllten Steilhang bis zum Skidepot. Die letzten Meter erreicht man dann kletternd den wunderschönen exponierten Gipfel des 3664 Meter hohen Montagne des Agneaux, von wo man einen herrlichen Tiefblick in die Täler des Glacier Blanc und Glacier Noire und hinüber zum Barre des Ecrins hat.

Zum Montagne des Agneaux

Beim Gipfelratsch löste sich dann auch das Geheimnis der beiden alles überholenden Skidamen: Beide entpuppten sich als nahezu professionell agierende Skirennläuferinnen, die sich (nach ca. 150 absolvierten Skitouren im Winter) gerade mal den letzten Schliff für den anstehenden „Patrouille des Glaciers“ holen wollten, dem wohl härtesten Skitourenrennen der Alpen. Na dann…
Und wenigstens bei der berauschenden Abfahrt, bei der wir immer wieder auch mit herrlichen Pulverhängen belohnt wurden, konnten Claus, Christian und Jonas mit ihrem schwerem Renngerät und ihrem herausragendem skifahrerischen Können den balsaholzbebrettelten Renndamen zeigen, wo der Bartl den Most holt…
Der frühe Aufbruch (und die schnelle Abfahrt) ließ uns schon am frühen Nachmittag zur Hütte zurückkehren und hier hieß es dann futtern, was das Zeug hält – die maßvolle Zusichnahme von alkoholischen Getränken diente in erster Linie der isotonischen Grundversorgung der ausgehungerten Körper.
Am nächsten Tag stand also der Col Emile Pic auf dem Programm. Im wahrsten Sinne erschwerend kam heute hinzu, dass wir nun unser ganzes Gepäck wegen Hüttenwechsels mitschleppen mussten, und da kamen dann doch schnell ein paar Kilos auf den Schultern zusammen, zumal wir je nach Gemütslage auf einen gewissen Luxus nicht verzichten wollten (z.B. Hausschuhe oder IPads). Dem Rat der Hüttenwirtin folgend (eigentlich wollten wir die steile Westflanke des Glacier des Agneaux begehen, von der war aber aufgrund des Schneemangels und des drohenden Hängegletschers um die Zeit abzuraten) gingen wir den Weg über die Breche du Plate des Agneaux. Das hieß also, nach einigen Stunden Skihatsch wider mit Steigeisen, Pickel und geschulterten Skiern eine recht steile Rinne 200 Höhenmeter hochpickeln (man glaubt es kaum, wie schwer ein schwerer Rucksack werden kann, wenn man auch noch Skier draufpackt…). Selten hat uns der Pickel – normalerweise das Statussymbol des harten Bergsteigers, stolz an jeder Liftstation den Touristen entgegengereckt, dabei eigentlich fast nie vonnöten – so gute Dienste geleistet wie in diesen Tagen. Skitouren in der Dauphiné sind nun einmal nur zum Teil mit den Skiern an den Füßen zu bewältigen, dauernd muss abgeschnallt werden, die Ski an den Rucksack, irgendwo raufklettern, abseilen, runterfahren usw. Trotz strahlendem Sonnenschein machte uns an diesem Tag ein immer wieder heftig aufbrausender Wind zumal in Gratnähe schwer zu schaffen. Und der frischte dann noch einmal ganz schön auf, als es nach einigen Stunden dann zum Col Emile Pic ging, dem Übergang zum Glacier Blanc. Hier nahm er fast schon patagonienhafte Züge an, es hob einen wirklich, wenn man sich dem Wind entgegenstellte, ein paar Zentimeter hoch. Spannung versprach auch die Überschreitung des Cols. Die Führerliteratur äußert sich hier recht unterschiedlich: von wenigen, leicht abzusteigenden Metern ist da die Rede, aber auch von der Unpassierbarkeit der Scharte bei wenig Schnee. Ein Blick hinunter zeigte uns einen in der Höhe nicht abschätzbaren, überhängenden felsigen Abbruch – also ist abseilen angesagt. Hier wurde es dann leicht rustikal – eine um einen Block gelegte 4mm-Schlinge war die einzige Möglichkeit, einen Abseilstand zu bauen. Und nun hieß es bei mittlerweile orkanartigem Sturm da runterzuseilen, ohne zu wissen, ob unser 60 Meter Halbseil ausreicht… Und bei diesen Verhältnissen ist stellenweise frei hängendes Abseilen mit schwerem Rucksack, Skiern drauf und Skischuhen nicht unbedingt komfortabel. Mit den letzten Zentimetern des Seiles erreichte ich schließlich den Schnee und fühlte mich schon erleichtert, als sich das von oben flockig locker und flach aussehende Schneefeld als bockhart gefrorene 50 Grad Flanke entpuppte. Wie man unter diesen Umständen den Rucksack (genau, den mit den Skiern drauf) runterbekommt, versucht, sich mit den Skistöcken auszubalancieren, die Steigeisen aus dem Rucksack raus- und letztendlich an die Schuhe zurrt, ist ein anderes Kapitel. Letztendlich sind haben alle die Abseilfahrt gut überstanden.

Auf dem Agneaux

Nach der letzten Traverse und der Abfahrt zum 3175 Meter hoch gelegenen Refuge des Ecrins waren wir ganz schön fertig – das Gebirge hatte uns seine Krallen gezeigt und wir waren alle recht froh, dass es ohne größere Probleme abgegangen ist.
Der Wind fegt um die toll und exponiert gelegene Ecrins-Hütte. Die Zeiten zwischen den vor der Hütte inhalierten Zigaretten meiner drei Mitfahrer werden deutlich länger, ein sicheres Zeichen, dass es wirklich ungemütlich ist. Und morgen sollen wir tatsächlich auf den Barre des Ecrins? Andere Tourengeher erzählen, dass es am heutigen Tag wegen des starken Windes nur eine Seilschaft auf den Gipfel geschafft hat. Das kann ja heiter werden. Vorsorglich verkündet der Hüttenwart für morgen schon mal eine spätere Weckzeit (normalerweise heißt es in den Hütten der Durchquerung immer um 4 Uhr aufstehen) – alles hat auch sein Gutes!
Am nächsten Morgen kachelt es mit unverminderter Heftigkeit. Unschlüssig sitzen wir rum, bis endlich einer ein Machtwort spricht: Versuchen können wir es ja! Und so mümmeln wir uns in alles ein, was die Rucksäcke so zu bieten haben und ziehen den langen Glacier Blanc Richtung Barre des Ecrins los. Der Sturm und der wenige Schnee haben die Flanke des Berges blank geblasen, kaum eine Spur ist zu erkennen, die einzig Chance mit den Skiern hier raufzukommen, bieten die Harscheisen. Moment… Richtig, ich bin ja der einzige, der solch Luxusgut mit sich führt und so bleibt meinen Mitstreitern Jonas und Christian bald nichts anderes übrig, als die Ski auf den Rucksack zu schnallen und die ganzen 1000 Höhenmeter mit Steigeisen hochzulatschen. Gewisse Blasenprobleme haben hier anscheinend ihren Anfang genommen. Claus verteidigt mannhaft seine Theorie, dass sich Harscheisen durch eine überlegene Skitechnik jederzeit ersetzen lassen und kämpft sich wacker und bisweilen abrutschend die eisige Flanke hinauf. Ich selbst merke mittlerweile den vierten Tag und muss mich ganz schön plagen. Kaum finde ich Zeit, die unglaublichen Schnee- und Eisformationen dieser so prägnanten Flanke des Barre richtig zu bewundern. Aber man kann ja hin- und wieder stehenbleiben… Langsam beruhigt sich der Wind auch wieder und nach dem üblichen Überholvorgang durch die lang nach uns gestarteten Schlierseer Rennläufer mit den gewohnten Anfeuerungsrufen („Soll ma dein Rucksack nehmen?“) geht es schon auf die lange Traverse zum Skigipfel dieses südlichsten Viertausenders der Alpen. Dieser wird dann wieder zu Fuß, teilweise über Blankeis erstiegen und bietet eine Rundsicht, die einem den Atem stocken lässt: Die ganze Dauphiné liegt uns zu Füssen, drüben die Meje, fast zum Greifen nahe sieht man die wilden Nordwände von Pic sans Nom und Ailefroide, 1000-Meterwände, in die sich heute praktisch niemand mehr hineintraut und die noch Geheimnisse und Ziele für Generationen von Kletterern bergen. Und die wohl nie enthüllt werden, weil alle zum Bouldern rennen…
Lange bleiben wir auf dem Gipfel und genießen, nachdem der Wind fast zur Ruhe gekommen ist, die atemberaubende Rundsicht.
Bei der Abfahrt ist wieder einmal rechte Vorsicht angesagt, ganze Zonen der Flanke sind vom Eisschlag übersät und ermöglichen stellenweise nicht gerade genussvolles Abfahren. Claus lässt’s dann unten doch noch mal richtig krachen und schrottet dabei einen Skistock, das war es aber auf jeden Fall wert.

Zum Barre des Ecrins

Und dann kommt einer der Momente, die man als Bergsteiger wohl nie vergisst: Während die anderen von der etwas höher gelegenen Ecrins-Hütte noch unser restliches Material holen (ich als Oldie habe freibekommen), fahre ich mutterseelenallein den ganzen, jetzt flachen Glacier Blanc ab. Das ganze Gletscherbecken für mich allein ziehe ich langsam meine Schwünge talwärts, kein Laut ist zu hören außer dem Knirschen des Schnees, um mich herum all die unglaublichen Berge dieses wunderschönen Gebirges. Langsam erglüht der Gletscher in den Farben der Nachmittagssonne, ein unendliches Gefühl der Zufriedenheit stellt sich bei mir ein. Ich weiß, dass wir bald an der Hütte sind, wir waren auf einem tollen Gipfel, alles ist gut gegangen, ich bin an einem der schönsten Orte der Welt, alles ist gut. Ein Gefühl, das alle Plagerei der Welt wert ist!
Die gastfreundliche Glacier-Blanc-Hütte erwartet uns schon und wir können uns einen Nachmittag lang ausgiebig in der Sonne eines wieder herrlichen Tages fläzen. Gespräche mit unseren Schlierseern (die längst schon an der Hütte sind) lockern den Tag auf – kaum zu glauben, in welcher Zeit sie diesen Berg hinaufgespurtet sind, kaum zu glauben allerdings auch, dass manche von ihnen keinen blassen Schimmer haben, auf welchen Berg sie eigentlich raufgerannt sind… Schön, dass es in den Alpen Platz für alle Spielarten des Bergsteigens gibt.
Die Königsetappe der Dauphiné-Durchquerung ist sicherlich der Weg über den Glacier Noire vorbei an den Nordwänden von Mont Pelvoux, Pic sans Nom und Ailefroide mit dem Anstieg zum Col de la Temple und die anschließende Abfahrt auf der anderen Bergseite. Dieses Tal ist sicherlich eines der einsamsten Täler der Alpen. Hier gibt es keine Hütte, keine Wege, keine Markierungen, kein Netz, kein gar nichts außer die eindrucksvollsten Berge und Landschaften, die man sich vorstellen kann. Und so findet uns der nächste Tag nach einer ruppigen Abfahrt von der Glacier-Blanc-Hütte auf dem weiten Weg den „schwarzen“ Gletscher mitten hinein ins Herz der Dauphiné. Kaum dass wir uns sattsehen können an den unglaublichen Nordwänden mit ihren wilden Hängegletschern und schroffen Felsstrukturen. Dass es hier am Pic sans Nom auch herrliche Sportklettereien gibt, durfte ich im Sommer vor einigen Jahren mit Christian Rester erleben. Die Erinnerungen schweifen beim meditativen Steigen über den nur leicht ansteigenden Gletscher immer wieder ab – da war die komische Abseilstelle, oben die tollen Seillängen im bombenfesten Granit. Wenn es so dahingeht, merkt man gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht. Nach wenigen Stunden sind wir schon am Einstieg der Flanke zum zum Col du Temple und dann wird es noch einmal ernst: Wieder geht es eine steile Eisrinne ziemlich kompromisslos nach oben, es folgt dann noch Kletterei in 2. Schwierigkeitsgrad – im Sommer ein Kinderspiel, hier aber, mit schwerem Gepäck und Steigeisen an den Füßen durchaus ernst zu nehmen. Eine absteigende Gruppe von vollkommen unzulänglich ausgerüsteten Franzosen hält uns lange auf, ehe wir schließlich das flache Joch des Col du Temple erreichen. Nach fünf Tagen und reichlich Höhenmetern bin ich erst mal ganz schön geschafft, auch Jonas plagt sich mit seinen wunden Füßen. Für mich ist auf jeden Fall morgen ein Ruhetag fällig!
Aber zuerst dürfen wir die Belohnung für den Tourentag einheimsen: In perfektem Firn geht es die 1000 Meter-Abfahrt hinunter Richtung Temple-des-Ecrins-Hütte. Da ist alle Schinderei vergessen, wie im Rausch können wir die langen, vollkommen einsamen Hänge hinunterschwingen. Es gilt noch, die steile Traverse zur Hütte zu finden, wo uns Pickel und Steigeisen wieder gute Dienste erweisen. Kurz danach ist es mit dem Skifahren vorbei, die Natur beginnt, den Winter zurückzudrängen, überall grünt und blüht es. Während wir die vielen Serpentinen des Hüttenzustieges zu Fuß absteigen, fühle ich wieder die schöne Schwermut, die mich immer überkommt, wenn der Winter endet, die Luft wieder nach Erde und Gras riecht und die ersten Schritte in Richtung Sommer gehen…
Noch steht uns die Etappe zur Meije bevor. Aber als ob der Frühling jetzt machtvoll nach uns greifen würde, geht uns irgendwie die Luft aus. Unten in La Berarde treffen wir wieder unsere Schlierseer und so wird in dem einzigen bewohnten und bewirtschafteten Haus des im Winter sonst verlassenen Ortes erst einmal gefeiert. Für mich ist ohnehin klar, dass ich einen Ruhetag brauche, aber auch der Wetterbericht verspricht eine deutliche Wetterverschlechterung mit Nebel und Schneefall in den Hochlagen. Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf: Nachdem einer der Schlierseer Burschen immer noch ein Flascherl Wein und noch eins hervorzieht und langsam diesen einen Blick bekommt, den ich aufgrund meiner Lebenserfahrung nur zu gut kenne (und der mich sicherheitshalber um 10 Uhr ins Bett verschwinden lässt), nimmt der Abend in der Folge einen Verlauf, der offensichtlich auch meinen drei Mitbergsteigern nicht allzu gut getan hat. Am nächsten Morgen ist nämlich nicht die Rede vom Tourengehen. Alle drei scheinen plötzlich erkrankt zu sein.
Das sich deutlich verschlechternde Wetter verschafft uns nach vielen Tassen Kaffee und medikamentöser Unterstützung das nötige Alibi, die Tour hier abzubrechen, in ein Taxi zu steigen und unser Auto auf diese Weise wieder zu erreichen.

In La Berarde

Fazit: Eine traumhafte Skitourenwoche in einer der schönsten Gegenden der Alpen geht zu Ende, wir haben uns geplagt, gefreut, wir haben gelacht, gut gegessen und getrunken. Drei Generationen waren unterwegs – ich hab‘ den Altersunterschied kaum gemerkt und hoffentlich die anderen auch nicht. Es ist einfach die Liebe zur den Bergen, zur Natur, zum Draußensein, was uns verbindet. Und diese kennt keine Altersbergrenzung. Denn für mich das schönste an der ganzen Woche war: wir haben uns gut vertragen, es war einfach eine gute Zeit!

Martin Keeser