Die Meije in ihrer ganzen Schönheit

Mist, Mist, so ein Mist! 40 Meter abseilen bis zum Gletscherrand hat es im Führer geheißen. Und nun ist nach 60 Metern das Seil fast zu Ende, ich stehe, beziehungsweise hänge mehr in einer unglaublich brüchigen Wandzone und weit und breit ist im richtig brüchigem Granit des von der Hütte herabziehenden Coloirs kein Stand zu sehen. Und das alles um 5 Uhr morgens, im Stockdunklem, nur die Stirnlampe wirft groteske Schatten auf die umliegenden Felsen.
Das fängt ja gut an!
Ein paar Tage vorher. Unverschämt gutes Wetter, wie überall in diesem Sommer 2013 in den Alpen begleitet uns nun schon ein paar Tage in La Berárde, dem reizenden französischen Bergsteigerdörfchen am westlichen Abhang der Dauphinée. Weit hinten im Talschluss gelegen und nur abenteuerlich mit dem Auto zu erreichen, atmet es den Charme vergangener Bergsteigerzeiten, flankiert von den südlichen Riesen der Alpen: Barre des Ecrins, Ailefroide und wie sie alle heißen. Schon seit Jahren zieht es uns in dieses Gebirge, dem südlichsten Ausläufer der Alpen mit seiner unübertroffenen Auswahl an allem, was das Kletterherz begehrt: vom Boulder über Sportklettereien, von plaisiergesicherten Mehrseillängenrouten bis zu wilden Abenteuerrouten an kaum begangenen Wänden, vom Granit über Konglomerat bis zu feinstem Kalk bietet dieses Gebiet für jeden Geschmack etwas. Und dabei ist es keineswegs überlaufen, man kann hier immer noch Gegenden hier finden, wo man noch ganz alleine die Hand an den Fels liegen kann.
Nach einer dieser schönen längeren bohrhakengesicherten Sportklettereien, auf dem Gipfel der Tête de la Maye hatten wir ihn dann das erste Mal in ihrer ganzen Schönheit gesehen: den Grand Pic de la Meije (3983 m), sicherlich einer der schönsten Berge der Alpen. Einer jener Berge, die sich von allen Seiten richtig unnahbar geben. Die Meije gilt selbst auf dem einfachsten Weg als einer der am schwersten zu ersteigende hohe Berge der Alpen – selbst der Normalweg erfordert zahlreiche Seillängen im dritten und vierten Schwierigkeitsgrad, neben einer heiklen Querung weit oben über den großen Glacier Carré, die fast alljährlich ihre Todesopfer fordert.
Aber der Normalweg ist es ja gar nicht, von dem wir beide, Christian und ich beim Anblick des wunderschönen Gipfels träumen… Obwohl die Zeit der großen Touren eigentlich schon vorbei sein sollte (als Seilschaft bringen wir, neben einigem Anderem auch insgesamt 106 Jahre auf die Waage…) zieht uns die pralle Südwand mit ihrer logischen Linie, die fast kerzengerade hinauf bis zum Gipfel führt, sofort in ihren Bann. Ein bekanntes Bergbuch mit 100 berühmten extremen Klettereien in den Alpen spricht von ihr als „eine der lohnenswerten und idealsten Freiklettereien in den Westalpen“ Man wird ja noch träumen dürfen….
Nachdem aber in den folgenden Tagen der Wetterbericht weiterhin eine stabile Hochdrucklage verkündet und uns die Sportkletterei zunehmend langweilt, halten wir es einfach nicht mehr aus. Christian fährt noch einmal schnell nach La Grave hinunter und ergänzt unsere Ausrüstung (so mussten feste Stiefel, ein paar Steigeisen und ein paar biwaktaugliche Unterhosen noch her). Und wir beschließen, die „Allain-Leininger“, den großen Klassiker an der Meije-Südwand zumindest zu versuchen.
Der Führer verspricht so richtig Old-School Spaß: bei etwa 800 Meter Wandhöhe und ungefähr 25 zu kletternden Seillängen vom 4. bis zum 6. Schwierigkeitsgrad macht er uns Hoffnung auf insgesamt etwa 20 steckende Normalhaken unterschiedlichster Qualität, zudem soll die Orientierung recht schwierig sein. Dazu geht die Kletterei bis genau 3983 Meter und verheißt noch ein überaus langen, komplizierten Abstieg mit ungefähr 15 Abseilstellen. Aber als Zugabe auch einen fetten Pausepunkt….
Spaß, Abenteuer und wirklich fetzige Sachen also. Genau das, wir wollen.
Und so waren wir am Vorabend, mit richtig schweren Rucksäcken ganz klassisch vom Campingplatz durch das Val d‘Etançons zur wie ein Adlernest an einem Felsgrat klebenden Promontoirehütte aufgebrochen. Das Spaß- und Tempolimitierende an so einer Unternehmung ist ja, dass man neben dem normalen Kletterkrempel auch noch Steigeisen, Pickel, große Schuhe und das gesamte Biwakzeug mit schleppen muss – und das nicht nur bis zur Hütte, sondern durch die ganze Tour. Trotzdem können wir den langen Weg durch das Tal sehr genießen. Gaston Rebuffat hat einmal diesen Weg mit einer Pilgerfahrt verglichen – und angesichts der Schönheit dieses Tales, dem erst ewig lang fast ebenen, dann immer steiler werdenden Zustieg können wir das durchaus nachvollziehen. Auf der gemütlichen Promontoirehütte, die nach einem vierstündigen Marsch zuletzt ziemlich alpin erreicht ist, gibt es das in Frankreich so typische Viergangmenü mit viel Liebe zum Detail von den beiden netten Hüttenwarten gekocht. Auf Französisch erhalten wir dann noch den neuesten Wetterbericht für morgen, ein paar nützliche Tipps zur Route und den Hinweis dass wir die einzige Seilschaft in der Südwand sein werden. Und dass um 4:00 Uhr wecken samt Frühstück ist.
So, und nun hänge ich hier, in diesem stockdunklen Schlund im fiesen Bruchgelände und das Seil ist aus. Jetzt gibt es zwei Optionen: wieder raufprusiken am Seil – kein sehr angenehmer Gedanke bei all dem Bruch hier, der sich durch immer wieder mit hässlich klingenden sich lösenden Felsbrocken bemerkbar macht – außerdem hieße das beim engen Zeitfenster für unsere Tour auch das Ende unserer Kletterfahrt, bevor sie richtig begonnen hat. Oder doch die Flucht nach unten? Schließlich finde ich ein kleines Felsköpfchen, über das ich eine mehr oder weniger vertrauenerweckende Schlinge lege, um mich selbst zu sichern. Christian kommt nach, und auf Gott und die Welt vertrauend seilen wir uns an dieser Schlinge bis zum Gletscherrand ab. Hier sorgt dann wenigstens eine Eisschraube für etwa Redundanz. Den Fachübungsleiter Alpinklettern hätten wir mit dieser Abseilaktion aber vermutlich nicht bekommen….

Abseilen in der Dunkelheit

Aber jetzt kann’s endlich losgehen. Noch In der Dämmerung ziehen wir uns die Steigeisen an und hatschen den immer steiler werdenden Gletscher bis zum Einstiegskamin empor. Hier seilen wir uns für einigei Seillängen an und bekommen schon einen ersten Eindruck davon, was ein alpine Westalpenkletterei alles zu bieten hat. Der Fels ist brüchig, es stecken wenig, dafür schlechte Haken und die Stände entsprechen meist auch nicht der UIAA-Norm, zudem ist es überall nass. Aber zumindest sehen wir jetzt langsam etwas. Ein wunderschöner Tag zieht herauf, eindrucksvoll ist das Panorama des südlichsten Viertausenders der Alpen, dem Barre des Ecrins und all der anderen Berge im ersten Tageslicht. Schön langsam können wir uns über die Tour von heute freuen. Der hässliche Fels der ersten Seillängen wird endlich vom hochgelobten rotbraunen und festen Granit der Dauphinée abgelöst.
Im sogenannten Fauteuil, einer eingelagerten, flacheren Senke der Wand angelangt, können wir sogar das Seil ablegen und klettern seilfrei im zweiten und dritten Schwierigkeitsgrad etwa 150 m in Richtung der Schwierigkeiten empor. Immer wieder der prüfende Blick in den Führer: sind wir noch auf der Route? Gerade im leichteren Gelände, wo es endgültig keine wegweisenden Haken gibt, ist die Orientierung recht schwer. Man kann ja überall klettern und wir wissen aus der Literatur, wie viel Seilschaften hier sich schon verstiegen haben. So ist der Zweifel immer da und macht die Kletterei spannend. Wieder angeseilt, wird es endlich etwas schwerer und eine richtige Freude am klettern stellt sich allmählich ein. Bei allerdings zwei limitierenden Faktoren: da ist einmal die dünnere Luft, die sich bei mittlerweile 3300 m Höhe schon bemerkbar macht, und da ist ja auch noch der vor allem für den jeweiligen Nachsteiger sauschwere Hauptrucksack. Zudem ist das Hauptthema aller Seillängen, die uns auch im 5. Grad selten mit einem Zwischenhaken oder verlässlichem Stand verwöhnen ein: „du fällst hier lieber nicht runter“. Aber trotzdem fasziniert uns das Ambiente einer großen Alpentour wie früher. Leider macht unser aus Gewichtsgründen den Fotoapparat ersetzenden Wischtelefon Zicken und lässt sich ( Meereshöhe? Aufregung?) nicht mehr wischen, weswegen die fotografische Ausbeute der Tour recht gering ausfällt.
Unfassbar, wie die Zeit verrinnt. Einmal verlieren wir kurz die Route, haben etwas hin und her zu suchen, schon sind wir eine Stunde hinter dem Zeitplan. Lang Pause machen ist sowieso nicht – ab und zu ein Schluck zu trinken am Stand, sichernd schnell einen Riegel eingeschoben, wollen wir nicht unangenehm biwakieren. Wir sollten auf jeden Fall um vier am Gipfel sein…
In der zweiten, oberen Hälfte wird es dann um einiges schwerer. Der gute alte Pause munkelt gar etwas von A1 – das erscheint dann doch etwas übertrieben. Aber bei einigen steileren Seillängen muss man sich schon gut fest halten. In wunderschönem, eisenfesten Granit, bei richtig schöner Kletterei kommen wir langsam höher. Immer wieder laden auch Verhauerhaken dazu ein, vom rechten Weg abzuweichen, zum Glück finden wir ab jetzt immer die richtige Linie. Allmählich macht sich auch eine leichte Müdigkeit bemerkbar – wen wundert‘ s, nach zehn Stunden Kletterei, jetzt, um drei Uhr nachmittags. Nach einigen schwereren Längen und dem berühmten Quergang ums Eck hält die Tour aber noch eine richtige Schikane bereit: Das Gelände wird jetzt leichter, der französische Führer spricht von 60 Metern im 3. Schwierigkeitsgrad, also beschließen wir gleichzeitig am langen Seil zu gehen. Nach ungefähr zweihundert anstrengenden Metern, bei denen mir zeitweise schwarz vor den Augen wird, sehen wir uns wieder darin bestätigt, das man französische Führer nicht immer so ernst nehmen muss… Aber wie heißt es im Pause so treffend: „Die französische Beschreibung ist stellenweise irreführend. Manche Kletterstellen sind ganz genau beschrieben, andere unverhofft großzügig.“
Aber langsam nähern wir uns der Gipfelregion der königlichen Meije („La reine Meije“ heißt sie im Volksmund) und damit der 4000er Marke. Die letzten drei, vier Seillängen sind noch mal schön anspruchsvoll, auch weil wir jetzt langsam richtig müde werden. Immer wieder gehen wir die Seillängen mehr als die üblichen 60 Meter aus und haben dann mit dem entsprechenden Seilzug zu kämpfen, ehe wir endlich den Gipfel erreichen. Es ist nun doch schon 4:30 Uhr geworden, ein kurzer Händedruck, ein schneller Bissen und wir müssen uns an den langen Abstieg machen. Zuerst heißt es einmal vom Gipfelturm hinunter zu kommen. Wir finden auch prompt die erste Abseilstelle, die danach folgenden müssen wir allerdings lange suchen, das Gelände ist zwar leicht, aber unübersichtlich und nicht abzuklettern. Und die Zeit rennt unerbittlich dahin. Der eingelagerte Gletscher, den wir queren müssen, erweist sich noch einmal als unangenehm, da er aufgrund der Tageserwärmung recht aufgeweicht ist. Wie froh sind wir, dass wir Steigeisen, Bergschuhe und Pickel über die Tour mitgeschleppt haben! Ohne das Eiszeug würden wir jetzt sehr dumm schauen… Abseilend passieren wir all die berühmten Kletterstellen des Normalweges – da ist der „Pas du Chat“ (der „Katzensprung“), die Österreicherplatten und den Eselsrücken. Zahlreiche Biwakmäuerchen an allen möglichen und unmöglichen Stellen zeigen uns, dass es schon öfter mit der Zeit eng geworden ist. Und der Abstieg zieht sich – immer wieder eine neue Abseilstelle, dazwischen wieder Gelände zum Abklettern. Schließlich ist es stockdunkel und wir sind noch immer nicht unten.
Obwohl es bis zur Hütte nicht mehr weit sein kann, merken wir jetzt, wie müde wir sind. Es ist schließlich schon 23 Uhr und wir sind jetzt seit 18 Stunden ununterbrochen beim Klettern. Und noch immer sind wir im Absturzgelände, wo jede Unkonzentriertheit böse Folgen haben muss – zu beiden Seiten geht der schmale Felsgrat, den wir uns nur im Schein der Stirnlampen abwärts tasten, gern ein paar hundert Meter hinab. Die Vernunft siegt jetzt über die Hoffnung, in der gemütlichen Promontoirehütte eine heiße Suppe schlürfen zu dürfen. Auf ein paar fast waagrechten Quadratmetern richten wir uns zum Biwak her. Jedes verfügbare Kleiderstück wird angezogen.

Nach dem Biwak…

Selbstverständlich müssen wir wegen der Absturzgefahr angeseilt bleiben, auch Schuhe und Helm lassen wir an. Ziemlich spitze Steine bilden unsere Unterlage und wir machen uns auf eine recht unangenehme Nacht gefasst. Am Gipfel hatte Christian Teile einer Isomatte gefunden und vorausahnend eingesteckt. Jetzt leistet sie uns als Unterlage wertvolle Dienste. Schon bald erfüllt uns eine wundervolle Ruhe – das Wetter ist stabil, wir wissen, dass uns außer einer durchfrorenen Nacht nichts passieren kann und so genießen wir schweigend das Spiel der Wolken im Mondlicht über den fahlen Gipfeln der Dauphinée. Eine Stimmung, die man sein Lebtag wohl nicht vergessen wird. Zwar ist der Biwaksack binnen kurzem durch das Kondenswasser innen patschnass, aber die Temperaturen sind Ende August noch erträglich. Ab und zu fallen uns sogar die Augen zu, so dass die Nacht nicht allzu unangenehm wird (am Morgen müssen wir allerdings die Biwaksäcke von einer Schicht Raureif befreien…)
Noch bevor der Tag graut sehen wir schon, wie sich von unten die ersten Stirnlampen auf uns zubewegen. Bald schon begrüßen wir einige Begeher des Normalweges, die sich im Dunklen ihren Weg suchen. Jetzt können auch wir uns an den Abstieg machen und erreichen auch schon bald die Promontoirehütte.

Die letzten Meter zur Promontoire-Hütte

Lang ist dann der Weg durch das Tal hinunter nach La Bérarde, immer wieder bleiben wir stehen und drehen uns zu „unserer“ Tour um, betrachten den Pfeiler, den Wegverlauf, den wir gestern geklettert sind. Ein Gefühl der tiefen Zufriedenheit erfüllt uns.

Was macht für mich nun den Reiz einer solchen Tour aus? Was bewirkt, dass ich mich jetzt noch an jede Einzelheit, jede Minute, jede Situation dieses Tages erinnern kann, nichts verblasst ist, wie nach so manch anderer Sportkletterei? Es ist etwas, das uns eine mit Bohrhaken gesicherte Genusstour in diesem Maß nicht geben kann. Jede noch so anspruchsvolle Sportkletterei bietet uns an jedem Stand die Möglichkeit problemlos und meist ohne Risiko wieder abzuseilen. Die Kletterschwierigkeiten sind da sicherlich höher, die Züge bei weitem anspruchsvoller – aber doch fehlt etwas. Ich muss mir meinen Weg nicht mehr selbst suchen, ich bin auf einer von den Erstbegehern mehr oder weniger gut vorgefertigten Piste. Das Abenteuer wird auf das Ausmaß der klettertechnischen Schwierigkeiten reduziert. Und das Erlebnis ist woanders so viel größer. Umso wichtiger erscheint es mir, dass es immer noch Touren, Gebiete gibt, die dem bohrhakenlosen, altmodischen Klettern erhalten bleiben. Ich denke, de Alpen sind groß genug, dass beide Spielarten unseres schönen Sports nebeneinander existieren können.