1996 Kletterexpedition nach Südgrönland

An einem grauen Winterabend, inmitten von bunten Bergbüchern und unbenutzten Kletterutensilien kam die Idee. Wieder einmal ein außer-europäischer Bergsommer- wie wäre es mit Grönland? Relativ leicht zu erreichen, einsam, unberührte Granitzapfen; das alles in zauberhafter, nordischer Landschaft – wie geschaffen für uns. Die Mannschaft hatte sich schnell gefunden und der Organisationsmarathon begann. Viele Freunde halfen uns mit Rat, Tat und Leihgaben, der
Freisinger Alpenverein unterstützte die Unternehmung auch in finanzieller Hinsicht großzügig. Ansonsten verlief die Sponsorensuche eher glücklos.
Vorbereitung
Ungewöhnliche Ausrüstungsgegenstände mussten beschafft werden, von Kundigen Informationen eingeholt und beim ein oder anderen die körperliche Verfassung auf Vordermann gebracht werden.
Besonders Privilegierte konnten es sich allerdings leisten, weniger Schweiß fließen zu lassen. Sorgen bereitete uns die abschließende Testfahrt unseres Schlauchbootflaggschiffes.

Anreise
Dank der modernen Verkehrstechnik gestaltete sich die Anreise problemlos. Nach drei erlebnisreichen Reisetagen erreichten wir unser Ziel, die Insel Pamialluk. Das menschenleere Eiland an der Südspitze Grönlands sollte für die nächsten Wochen unser „Spielplatz“ werden.
Nach dem Löschen der Ladung blickten wir doch etwas beklommen durch den Nieselregen der Colo nach und einigen Ungewissheiten entgegen. Zwar wurde die Insel schon von drei Expeditionen besucht, doch trotz ihrer Berichte
blieben für uns in dieser menschenleeren, arktischen Gegend viele Fragen und Unwägbarkeiten: Wie werden sich die Wetterverhältnisse präsentieren, bleiben wir von Verletzungen verschont, wie kommen wir in diesem Fels beim Klettern im unberührten Gelände zurecht? Angesichts unserer Truppe konnten wir jedoch zuversichtlich sein: Jeder kann sich auf jeden verlassen; klettertechnisch und menschlich.
Teilweise seit 15 Jahren sind wir gemeinsam unterwegs, ein Freundeskreis, der sich bestens kennt. Auch hat jeder neben dem obligaten Kletterkönnen und der alpinen Erfahrung ein Spezialgebiet, von dem die Mannschaft profitiert.

Die „Colo“ legt in Pamiagdluk an

Lager
Unser idyllisch gelegener Lagerplatz ließ keine Wünsche offen. Wo in früheren Jahrhunderten bereits die Wikinger siedelten, errichteten wir unsere kleine Zeltstadt. Der Speisezettel war gespickt mit kulinarischem Höhepunkten, das geräumige Messezelt erlaubte ein entspanntes Zusammensein, fette Fischgründe, ein Tennis-und ein Schießplatz waren vor der Tür und auch an fließendem Wasser herrschte kein Mangel. Kurzum: der Komfort kannte keine Grenzen.

Auf der Überfahrt am „Trout Lake“

Erste Tage
In den ersten Tagen blieb das Wetter äußerst bescheiden, doch mit dem Aufbau eines gemütlichen und sturmsicheren Basislagers und dem Einrichten eines Hochlagers waren wir reichlich ausgelastet. Unsere beiden Schlauchboote bekamen ihre Plätze am Meer und an einem See, der sich zwischen dem Basislager und den Bergen befand. Der Zustieg zu den Wänden vereinfachte sich dadurch – nicht zu verachten war auch der Spaß, sich nach einer schweißtreibenden Tour mit einer flotten Bootsfahrt zu verwöhnen. Nach einigen Schlechtwettertagen lichtete sich schlagartig die Wolkendecke und voller Tatendrang konnten wir an einem glasklaren Morgen loslegen.

Wir sechs!

Touren
Es folgten Tage harten Einsatzes an den Wänden und Kanten, moralische Brennpunkte in griffarmen Fels und Glücksmomente auf bisher unbetretenen Gipfeln. Wir durften Augenblicke oben genießen und Erfolge feiern, wie die erste Ersteigerung des Freisinger Turms, oder die Durchkletterung anspruchsvoller Routen wie „Nordlicht“ oder „Haute Cuisine“.
Jede der acht Erstbegehungen, die uns gelangen bestach durch sehr guten Fels und eine logische Linienführung,  jede hatte Charakter und forderte uns. Bei Wandhöhen bis zu 700 Metern konnten wir bis zum oberen siebten Grad frei klettern. Wir legten uns schon zu Hause einen sportlich fairen Stil auf, Freikletterei war Trumpf, lange Belagerungen mit Fixseilketten kamen nicht in Frage.

Whiskey
Kein Wunder, dass sich nach jeder neuen „Eins“ im „Medaillenspiegel“ unsere Beute vom Duty Free Shop beängstigend schnell leerte.

Eindrücke.
So tat es unserer guten Stimmung auch keinen Abbruch, wenn Thor gelegentlich den Himmel wieder verdunkelte. Schließlich mussten Beschreibungen verfasst und Routennamen erdacht werden. An den langen Abenden wurden alte Schwänke zum Besten gegeben oder die „Bibliothek“ durchforstet, an Regentagen nachten wir mit dem Schlauchboot Ausflüge oder erwanderten die Gegend. Grönland hat ja weit mehr zu bieten. Das Land muss jeden Naturliebhaber beeindrucke!  In den Fjorden segeln die Eisberge, die klare Luft erlaubt überragende Einblicke; wohin man schaut, zeigt sich unberührte Natur. Auch kann die größte Insel der Welt einen erstaunlichen Reichtum an Kultur und Geschichte aufweisen. Gräber und Grundmauern zeugen noch davon.- Über die Gründe des Aussterbens der Wikinger rätseln die Wissenschaftler. Wahrscheinlich entzogen klimatische Veränderungen den Nordmännern die Lebensgrundlagen.
Unser Leben war da bedeutend leichter. Ein Griff in die glänzend sortierte Essenskiste, und schon zauberten die Küchenchefs Spezialitäten wie Pizza, Zwetschgenknödel oder Braten mit Knödel und Kraut. An Ernstes Geburtstag buken Babsi und Rainer sogar an einem extra angefertigten Ofen erstklassigen Fruchtkuchen: Eine zusätzliche Bereicherung des Speisezettels brachte natürlich der frisch gefangene Fisch.

Aurora
Im morgendlichen Gegenlicht taucht eine phantastisch kühne Granitkante über der nebelverhangenen Märchenwiese auf. Am 11. August brechen Christian und ich zu unserem Handstreich am Quilerdike auf. Noch will kein rechter Gehrythmus aufkommen, die Nerven sind in Erwartung einer Neutour im Niemandsland angespannt. Wegen Motorschaden am Schlauchboot muss der mühselige Weg um den unteren See zu Fuß zurückgelegt werden. Der Zeitverlust bringt uns später eine Biwaknacht in Polarkälte ein. Den Beginn der Kletterei markiert ein rauher Handriss, zu dessen Überwindung aufgescheuerte Handrücken in Kauf genommen werden. Nach einem Eiertanz über bröselige Flechten folgen dann aber doch etliche traumhafte Seillängen in dem erhofft besten Granit.

Aurora

Jeder Meter wird mit dem Auge vorausschauend auf Kletterbarkeit geprüft, um nicht in die missliche Lage des „nicht mehr Vorwärts- und Zurückkommens“ und damit in Sturzgefahr zu kommen. Gut zu wissen, daß der langjährige Tourenspezi die Hand am sichernden Seil hat. Überraschenderweise können wir mittels einer Rampe dem ungangbaren Kantenausschnitt ausweichen und nach vielen rasch verronnenen Stunden scheint das Ende nahe. Ein schwieriger Riss will uns in den Abendstunden beinahe noch abweisen. Ziemlich erledigt erreichen wir doch noch die Grathöhe und können. wohlverdient die untergehende Sonne bewundern. Sie verschwindet zwischen einer Reihe filigranster Felstürmchen am‘ Horizont. Die Nacht durchzitternd erwarten wir sehnsüchtig die ersten Sonnenstrahlen, wir taufen die Tour „Aurora“. Nach rascher Abseilfahrt ist schnell der Einstieg und alsbald der Talgrund erreicht. Erst jetzt fällt die große Spannung ab, die uns während dieser
Neulandfahrt in wilder und abgelegener Landschaft auf Grönland begleitete. Die Freunde hatten sich aufgrund unseres nächtlichen Ausbleibens Sorgen gemacht. Versöhnlich können wir anschließend Lachsforellen (angeblich bester Speisefisch der Welt) aus dem nahegelegenen Bach angeln. Draußen im Fjord zischt ein zwischen Eisbergen auftauchender Wal Fontänen in die Luft. Nachts zieht uns ein Nordlicht in seinen Bann.

Ein kaltes Biwak

Stefan

Jokerman
Ein Tag wie im Bilderbuch. Der See ist so flach wie ein Brett. Schon morgens um halb fünf herrschen angenehme Temperaturen. Zu dritt marschieren wir heute los – Babsi, Christian und ich. Schon beim Abstieg von der Erstbesteigung des „Nördlichen Freisinger Turmes“ war Christian der nicht sehr markante, ‚aber dennoch ausgeprägte Südpfeiler am Naujarssuit aufgefallen. Von dieser Seite war der Berg bisher noch nicht bestiegen worden- und anschauen kostet ja nichts.
Weglos geht es die steilen Gras- und Schotterhänge , unterhalb des P.768 hinauf. Heute sind sie aber bös, die Mücken! Oben, am Joch, das ich mit dem üblichen Abstand zu den beiden Bergziegen erreiche, tut sich der erste Blick ‚auf „unseren“ Pfeiler auf. Ganz klar, da ist er, schön im Profil einzusehen, nicht besonders markant, aber dennoch ziemlich logisch. Jedoch je näher wir dem Berg kommen, umso weiter scheint er vor uns zu verschwinden. Die klare Linie, die eben noch am Horizont zu sehen war, verliert sich in Platten und unübersichtlichen Wandstrukturen. Dabei sind wir jetzt schon um den halben Berg herum! Kurzer Kriegsrat. Jetzt klettern wir halt einfach da rauf, wo es am logischsten und einfachsten erscheint!
Kurze Zeit später sieht die heute ausnahmsweise richtig warme Sonne Grönlands drei emsige Kletterer und ungefähr eine Milliarde Mücken am Einstieg des „Südpfeilers“. Die ersten Seillängen lassen sich noch so richtig genießen – Genusskletterei im dritten und vierten Schwierigkeitsgrad, immer schön im Zickzack die doch ziemlich steile Wand überlistend. Der Fels ist so gut wie er besser nicht sein könnte, warm, gelb und fest, man meint in einem der Schatzkästchen des Montblancgebietes zu sein.
Und da ist ja noch unsere Geheimwaffe! Ohne Not packe ich am dritten Stand erstmals die Bohrmaschine aus und pflanze einen fetten Bohrhaken in die Landschaft. Ist schon klasse, das Gerät.
Ein Rasenpolster lädt zu kurzer Rast und einem Zigarettchen ein. Wir sind jetzt genau unter der schon von unten sichtbaren Dachzone, und hier war von Anfang an ein kleines Fragezeichen. Während Babsi fleißig Video filmt und Christian diesmal von Hand einen Bohrhaken drischt, sortiere ich schon mit etwas mulmigerem Gefühl das Material.
Wenige Tage später sollten dann Christian und ich die erste ganze Begehung des „Naujarssuit-Südpfeilers“ beenden.

Jokerman

Als Vorsteiger habe ich die Ehre, der Tour einen Namen zu geben: „Jokerman“ – der Titel eines meiner Lieblingslieder von Bob Dylan:
Standin‘ an the water casting your bread,
White the eyes of the Idol with the iron head are glowing.
Distant ships sailin‘ Info the mist,
You were born with a snake in both of your fists,
While a hurricane was blowing.
Freedom, just around the corner for you.
But with truth so far off, what good would it do
Jokerman dance to the nightingale’s tune.
Bird fly high by the light of the moon.
Oh, oh, oh Jokerman.

Naujarssuit S-Pfeiler „Jokerman“

Martin

Quilerdike Süd-Wand
oder: Was lange währt wird endlich gut
Die ersten Klettermeter in Grönland sollten nur der Eingewöhnung dienen Babsi und ich haben uns ein „kleines, nicht zu schweres“ Projekt ausgesucht. Die Südwand des Quilerdike: ersten Schätzungen zufolge eine Wandhöhe inklusive Vorbau ca. 600 m, Schwierigkeiten ca. 300 m im Bereich V mit einem kleinen Fragezeichen, der Dächerzone in Wandmitte.
1.    Versuch:
Nebel, warten am Einstieg, um nicht schon von vornherein falsch einzusteigen. Am Ende des Vorbaus erste knifflige Stellen, die bereits einige Normalhaken zur Sicherung nötig machen
Das Band: Fluchtmöglichkeit aus der Wand.    1
Die Wand: 4 SI mit kontinuierlich steigender Schwierigkeit III 2 IV – V – VI. Tolle
Kletterei, prima abzusichern (an jedem Stand einen Bohrhaken) und ein Bombenfels.
6.00. Uhr Rückzug
8.30 im Lager
Fazit: die Wand ist viel größer als vermutet.
3 Tage später:
2.    Versuch:
Um 10.00 Uhr sind wir bereits am Umkehrpunkt. Es beginnt leicht Z..1 regnen. So einfach drehen wir nicht um. 10 m schwieriger Schulterriss, schlecht gesichert, nasser Fels. Es geht nun langsam. Der Regen hört auf: weiter. Tolle Verschneidungen und Risse immer V – VI.
Das Dach: 1. Versuch abgeschlagen nach hartem Kampf: überhängender Offwidth-Riss. 2. Versuch links rum. 10 m technische Kletterei nötig. Stand. Wieder Offwidth-Riss 8 m über dem Stand ist Schluss. Ohne Bohrhaken geht nichts weiter. AbseiIen, Rückzug.
Fazit: die Wand ist zu schwer für uns. Es geht nicht.
10 Tage später: die Wand lässt uns keine Ruhe. Aller guten Dinge sind drei.
3.    Versuch:
Diesmal ist Martin mit dabei. Um 12 Uhr sind wir am Umkehrpunkt. Sogar die 10 m technische Kletterei gingen heute frei. Der Quergang: vom obersten Stand 20 m nach links. Alles ist kletterbar. Heute hält uns nichts. Verschneidungen VI – VI+ -VII- kein Problem. Martin schwärmt und ist voll begeistert. Auch die Gipfelwand ist noch mal schwer, der letzte Ausstiegsmeter VII. Aber geschafft, die Tour ist doch noch vollendet und trägt nach langem hin und her den Namen „Haute Cuisine“.

Frenchbird „Haute Cuisine“

Rainer

„You crack me up“
„Ernst“ „Ernst“ „Eeanssd“    „jaaaa“….“aufstehen“….“nein“- „jetzt komm es ist schon 10 Uhr und die anderen sind schon seit 4 Uhr unterwegs.“….“na gut“.
Frühstück, wandern, übern See brausen, wandern – und schon sind wir am Einstieg der „Stürmerkante“, die wir uns zum Eingehen ausgesucht hatten. Dicker Nebel. Auf 50° steilen Felsplatten schnellen wir wie unser Puls in die Höhe. Zweiminusgelände seilfrei. Nach 150m tauchen wir aus dem Nebel auf und ziehen uns nicht nur die super Aussicht rein. „Hast du eigentlich gewusst, Ernst, dass die Nordwand neben der Stürmerkante noch undurchstiegen ist?“ „Nein, schau ma halt mal ob da was geht . . .“ Eine Viertelstunde später stehen wir am Anfang des schweren Teils der Stürmerkante und haben von dort aus einen guten Einblick in die Wand. „Hey Martin so unmöglich schaut die aber nicht aus – wie viele Bohrhaken haben wir eigentlich dabei?“ „Sechs Stück – ich hab nichts dagegen.“ Unten ein kleiner Gletscher , oben eine jungfräuliche Wand und dazwischen wir, die versuchen über den plattigen und geschlossenen Granit in das Herz der Wand zu queren. Kurz vor der Gipfelfalllinie sind wir dann auf Gold gestoßen, das heißt auf ein Risssystem, das die ganze Wand wie ein Strich durchzieht. Daher kam später der Name „You crack me up“.Die ersten vier Seillängen zwischen 4 und 5 – da lässt man’s halt laufen. In der 5. SL versperrt uns ein kleiner Überhang den Weg, aber na warte, ich setz ihm einen kleinen Klemmkeil zwischen die Rippen; halt kurz die Luft an und zieh mit ein paar Zügen über ihn hinweg. Nächste Seillänge, die Überhänge nehmen anscheinend kein Ende, wir weichen nach rechts aus und kommen über eine kleine Verschneidung und eine Plattenstelle wieder in unser Risssystem zurück. War der Riss kurz zuvor zu geschlossen ist er jetzt viel zu breit, das heißt, ich quäle mich durch den letzten Überhang in einem ekelhaften Körperriss. Die Bohrhaken sind alle, der Tag neigt sich dem Ende zu und sind es jetzt noch 1, 2 oder 5 Seillängen zum Gipfel? Egal wir klettern weiter. Die Schwierigkeiten liegen zum Glück hinter uns, doch leider lässt uns der Tag nicht mehr genug Zeit die tolle Kletterei richtig zu genießen. Wir erreichen den Grat 30m unter dem Gipfel und seilen sofort über ihn ab. Gefreut haben wir uns erst später, im Basislager unten, da wo’s nachts auch warm war.

Übersicht Naujarssuit

ZUR ROUTE:
Wir kletterten 9 Seillängen meist im 5. Schwierigkeitsgrad davon zwei 6+. Der Fels war bis auf 5m bombenfest und so sauber, dass oft das Gefühl einer Erstbegehung gar nicht aufgekommen ist. Wir haben die ganze Wand frei durchstiegen und nur an den Standplätzen Bohrhaken geschlagen. So kann der Berg Naujarssuit eine nette Route mit dem Namen „You crack me up“ sein Eigen nennen.
Ernst